Julia, 12.3.:
Ein schönes nachträgliches Geburtstagsgeschenk ist der Besuch des grandiosen Strbacki Buk – ein riesiger Wasserfall im wunderschönen Una-Nationalpark, in dem es neben zahlreichen Burgruinen aus osmanischer Zeit auch Wölfe und Bären gibt.
Später fahren wir nach Velika Kladusa. Am Ortseingang halte ich kurz an, um unsere Kontaktperson von „blindspots“ telefonisch nach dem Weg zum Treffpunkt zu fragen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite sind eine Gruppe von People on the Move. Lenie kommt etwas komisch vor, und sie geht mit mir rüber. Tatsächlich sitzt einer der jungen Marokkaner am Boden, mit einer tiefen Fleischwunde. Auf dem Game habe die kroatische Polizei ihn mit einer Glasflasche geschlagen, sagt er. „Warum hasst die kroatische Polizei uns so?“ fragt einer seiner Freunde, dessen Handy zertrümmert ist. Auch das Handy dessen, der am Boden sitzt, ist kaputt. Wir hören später, dass die Polizei manchmal den Flüchtenden sagt, sie sollen Handy und Geld in die Hand nehmen, und schlagen ihnen dann aufs Handgelenk, bis sie alles fallenlassen. Was sie nicht weiterverkaufen können, verbrennen die Polizisten dann. Wir bleiben, bis die Wunde gereinigt und verbunden ist, und geben auch zwei gebrauchte Handys weiter. Uschi und Lenie entwickeln (groß-)mütterliche Gefühle, und der Innigkeit der kurzen Begegnung nach zu urteilen beruht dies auf Gegenseitigkeit und das Treffen ist entsprechend herzlich. Einen Arzt will der junge Mann nicht sehen, obwohl die Wunde eigentlich geklammert werden müßte. Später treffen wir durch Zufall Freiwillige einer Organisation, die medizinische Basisversorgung leistet, und verbinden sie mit den marokkanischen Jungs.
Wir sind spät bei unserem Treffen mit der Aktivistin von „blindspots“, einer in Berlin gegründeten Initiative. Sie ist schon zum zweiten Mal hier, und beantwortet geduldig unsere vielen Fragen. So erzählt sie, dass seit dem „Lighthouse“-Report über die Pushbacks auf dem Balkan und in der Ägäis vom Herbst 2021 die Situation hier besser geworden ist. Mehr Leute kommen durch, und wenn im offiziellen Lager in Zagreb Platz ist, werden Familien anstatt zurückge-pusht dorthin verwiesen. Sie erzählt über das Netzwerk der Unterstützer*innen außerhalb der „offiziellen Strukturen“ – wer da ist, wie die Zusammenarbeit funktioniert… Die Internationalen – deren Mindestanwesenheit vor Ort 4 Wochen beträgt, damit sich die Einarbeitung lohnt – sind alle auf Touristenvisum da und entsprechend nervös, wenn neue Leute auftauchen. Welche hatten uns gesehen, und Alarm geschlagen, bis die lokale Aktivistin sie beruhigt hatte dass wir „ok“ seien. Mit der Aktivistin von blindspots sprechen wir auch über die Pushback-Map. Ihre Organisation ist Teil des Border Violence Monitoring Network, deren Konzept es ist, sehr ausführliche und detaillierte Interviews zu machen. Sie erstellen aus den nicht sensiblen Teilen der Informationen dann zusammenfassende Berichte für Advocacy-Arbeit. Die Pushback-Map dagegen ist ein selbstermächtigendes Tool, auf dessen Website jede*r direkt Berichte einstellen kann – ob nur einen ganz kurzen oder einen ausführlichen, ob selbst erlebt oder von einer anderen Person gehört. Während blindspots pro Woche ein Interview macht und No Name Kitchen, ein anderes internationales Kollektiv in Velika Kladusa, zwei, können auf der Pushback-Map beliebig viele Menschen – wann auch immer ein guter Zeitpunkt für sie ist – ihre Zeugenaussagen eintragen. Wir sind uns einig, dass sich das nicht widerspricht, sondern jeweils eigene Vor- und Nachteile hat. Für manche ist es bestimmt wichtig, einem menschlichen Gegenüber von den Erlebnissen zu erzählen, für andere ist es z.B. emotional einfacher, dies anonym und für sich allein zu tun. Meine Frage, ob sie mehr Interview-Anfragen/Wünsche von zurückgeschlagenen People on the Move bekommen als sie bedienen können, bejaht sie ganz klar. Unsere Schlußfolgerung ist, dass sich die Ansätze durchaus ergänzen können. Aber eine konkrete Kooperation müßte auf anderer Ebene zwischen den beiden Netzwerken besprochen werden. Wichtig für mich ist in dem Moment auf jeden Fall, dass bei blindspots kein Gefühl aufkommt, dass wir eine „Konkurrenzveranstaltung“ machen. Eine Anmerkung von ihr ist, dass es wichtig ist keine Details über die tatsächlichen geheimen Routen zu veröffentlichen – aber da diese nicht explizit abgefragt werden und die Einträge auf der Pushback-Map ja vor Erscheinen auf der Karte moderiert werden, ist das letztlich kein Problem. Mir fällt auf, dass während BVMN dauerhaft Leute vor Ort hat und Pushback-Map nicht, beide bislang kaum die Menschen in den offiziellen Camps erreichen. Und Uschi und ich sind uns einig, dass wir uns nach der Rückkehr auch mehr mit möglichen oder vielleicht im Kollektiv bereits bestehenden politischen Veränderungsstrategien beschäftigen wollen, die auf der Pushback-Map aufbauen. Als „Neulinge“ im Kollektiv der Pushback-Map bemerken wir, dass wir auch da noch Fragen haben und uns auf weiteren Austausch freuen. Für den nächsten Tag nehmen wir uns vor, lokale Akteure zu gewinnen, die Sticker der Pushback-Map zu verteilen.
Später fahren wir zu „No Name Kitchen“, einer spanischen NGO die sowohl in Velika Kladusa als auch in Bihac (und in anderen Ländern) Freiwillige haben. Im Wohnzimmer des Kollektivs, das den Vibe eines besetzten Hauses in Berlin hat, ist ein reges Kommen und Gehen. Eine kurze Runde mit Kaffee, dann packen wir unser Gepäck aus und die Aktivist*innen von No Name Kitchen und der medizinischen Freiwilligenorganisation, die auch durch Zufall da sind, packen ein was sie brauchen können: Männerklamotten, Regenjacken, auch ein paar Frauenklamotten, Schuhe, Babytragen, und zwei Tüten voller Medikamente, Fußsalben, Lavendelöl, Verbandsmaterial…
Der Abend klingt bei der bosnischen Familie in Buzim aus, wo wir auch noch Kleider und etwas Geld für die weitere Unterstützung Flüchtender dalassen können. Zusammen singen wir das bosnische Lied „Reci Bosna lyubavi….“.