Uschi, 11.3.:
Donnerstag ruhe ich immer noch auf dem schwäbischen Sofa, bin aber negativ getestet und kann abends losfahren nach Zagreb. Tagsüber kommen immer mal Nachrichten aufs Telefon: bei den jungen afrikanischen Studenten im Wendland ist Unruhe aufgetreten: es kursiert das Gerücht, dass sie schnell in die „Heimatländer“ zurückgeflogen werden sollen…..Ich versuche sie zu beruhigen… dass erstmal ihr Status hier bis zum 23.Mai gesichert und legal ist. Aber es gibt ja die Aussage der EU-Kommissarin für Geflüchtete, dass „Flugzeuge kommen, sie einsammeln und nach Hause fliegen“ Das beunruhigt natürlich ….und weil es der wichtigeste Gedanke für die jungen Leute zu sein scheint, ihre Studien weiterzuführen (einge stehen schon kurz vor ihren Examina, u.a. in Medizin, Pharmazie, Biochemie….) höre ich quasi gedanklich, wie die Scherben der Zukunftsträume klirren… Dabei wäre es so wichtig, diesen jungen Menschen zu ermöglichen, ihre Studien irgendwo und irgendwann weiterzuführen und als qualifizierte Fachkräfte in ihre Heimatländer zurückzukehren. Ein Anruf bein der Migrationsberatung bestätigt meine Befürchtungen: Es wird tatsächlich daran gedacht, sie alle „heim“zuschicken. Aber erstmal steht ja das „magische Datum“ 23.5. noch fest. Im Laufe des Tages erhalten alle jungen Leute zumindest die Fiktionsbescheinigung, aber weiter heisst es : „Geduld bewahren“. Abends stellt mich die deutsche Bundesbahn – mal wieder – auf die Probe: auf dem kleinen Bahnhof Nürtingen erscheint plötzlich die Ansage, dass der vorgesehene Zug 40 Minuten Verspätung hat. Natürlich wären damit alle Anschlüsse gecancelt…..und natürlich ist niemand am Bahnhof, den man fragen könnte. Und so oft gibt es ja nun keine Verbindungen nach Zagreb. Ich „flitze“ mal eben nach Ulm, da hat der Anschlusszug nach München Verspätung und dann glücklicherweise auch der Nachtzug nach Zagreb. Am nächsten Mittag geht es von Zagreb mit dem Bus weiter zur kroatisch-bosnischen Grenze – wo mich der Bus mitten im Nirgendwo als letzte Passagierin „ausspuckt“. Zu Fuss geht es über die Grenze und auf der bosnsichen Seite warte ich dann auf Julia und Lenie- und bin seelig, als ich die beiden endlich begrüssen darf – an Julias Geburtstag…
Julia, 11.3.:
Mit einer lokalen Organisation können wir an deren zwei mal die Woche durchgeführten Tour zu den inoffiziellen Squats / Safe Houses um Velika Kladusa teilnehmen. Es gibt in Velika Kladusa auch ein offizielles, von der IOM geführtes Camp, wo nach unterschiedlichen Angaben zur Zeit 150 bis 500 Menschen sind; es ist wohl bis 800 Personen ausgelegt. Dort kommen keine Auswärtigen rein, und die Flüchtenden kommen nur zu bestimmten Uhrzeiten raus – „wie ein Gefängnis“ sagt eine internationale Aktivistin, die zur Zeit in der Region aktiv ist. Sie würden dort „erkennungsdienstlich behandelt“ mit Fotos etc, und ihnen würde dort regelmäßig angeboten, wieder zurück in ihre Heimatländer gebracht zu werden. Was natürlich fast niemand annimmt. Die lokalen Aktivisten auf der Tour zu den inoffiziellen Camps sind wohl schon vertraut mit internationalen Gästen. Der eine, ein sehr herzlicher junger Mann, sagt, es sei gut den Leuten auch was mitzubringen, und sie nicht nur „auszufragen“. Zum Glück haben wir ja den Kofferraum voller Sachen. Es ist ein komisches Gefühl, so Charity-like Sachen weiterzugeben. Das habe ich in der Form noch nie gemacht, und frage mich, ob das meinem politischen Ansatz entspricht. Und dann denke ich, es ist auch eine Frage der Haltung. Hier sind Menschen die unverschuldet in schwierigen Situationen geraten sind, was sehr viel mit den globalen Handels-, Kolonial-, Waffenhandels-, Extraktivismus- und Klimazerstörungsstrukturen etc… zu tun hat, von denen wir (zumindest unmittelbar) profitieren. Und ich verteile in gewisser Weise – in sehr kleinem Umfang – den Überfluss aus meinem Land um. Die schönen Klamotten, die sich bei mir vor der Reise fast ohne mein Zutun sammelten und in meiner Wohnküche stapelten, haben mich gleichzeitig gerührt und erschüttert – so eine Diskrepanz zwischen Überfluß und Mangel! Aber es geht natürlich auch darum, Not in Bezug auf unmittelbare Grundbedürfnisse zu lindern. Materielle, aber auch seelische – in welch kleinem Umfang das vielleicht möglich ist. Und das Geschehen in einen politischen Kontext zu setzen und mit Kampagnen zu verknüpfen. Wie ich Thomas Gebauer von medico international neulich auf einem Vortrag sagen hörte, geht es gleichzeitig darum „Hilfe zu verteidigen, zu kritisieren, und abzuschaffen“.
Wir fahren also hinter dem Auto der lokalen Aktivisten hinterher, die einige Grundnahrungsmittel u.a. dabei haben und ansonsten fragen, was gerade gebraucht wird und das dann später bringen. Unsere erste Station ist die Ruine einer alten Fabrik. Rechts und links des Pfades zum Gebäude liegt Müll. Streunende Hunde begrüßen uns in der inzwischen dachlosen Fabrikhalle. An der Seite ist ein Treppenhaus. Wir gehen die Treppe nach oben, wo es zwei intakte Räume gibt. Die Aktivist*innen des berliner Kollektivs „blindspots“ haben die Türen gesichert und abgedichtet. Einer der Räume ist abgeschlossen, der andere leer. Unten treffen wir einen Afghani, der fast kein Englisch spricht, aber wohl eigentlich im offiziellen Camp ist. Ich gebe ihm den Sticker der Pushback-Map auf Persisch. Wir fahren weiter.
Der zweite Squat ist eine Art Datscha, wo zur Zeit fünf Pakistani sind. Einer von ihnen erzählt, dass er bereits 3 Jahre hier feststeckt, die anderen ein Jahr. Er zeigt uns Bilder wie er sein Bein gebrochen hat, und wie er zusammengeschlagen wurde. Nach jedem Mal im „Game“ warte er wieder bis er sich wieder erholt habe, und dann versuche er es erneut. Aber es ist auch eine finanzielle Frage. Er könne seine bereits verschuldete Familie nicht mehr nach Geld fragen, um weiterzukommen. Wir erfahren später, dass der Transit nach „Europa“ zwischen 2500 und 7000 Euro kostet. Ohne Schlepper, die die Routen kennen, ist es fast nicht zu machen. Die billigste Variante führt zu Fuß über die Grenze, und dann ca. 20 Tage zu Fuß weiter über Slowenien bis zur italienischen Grenze. Während dieser Zeit können sie jederzeit von der kroatischen oder der slowenischen Polizei aufgegriffen und zurück nach Bosnien-Herzegovina gebracht werden. Die teurere Variante ist via Straße, also unter LKWs oder in anderen Vehikeln versteckt über die Grenze, und dann teils mit Taxi oder anderen Fahrern die Strecken über Land.
Spatzen huschen durch den Raum. Der Ofen – ebenfalls installiert und mit Brennholz versorgt von „blindspots“ – gibt schön warm. Die Männer sammeln sich darum. Der Mann, der schon drei Jahre da ist, zeigt ein Bild, wie er als junger Mann in Griechenland ist. Er ist sichtlich bitter darüber, dass er seine Jugend auf der Flucht verbracht hat und jetzt älter wird ohne Perspektive feststeckend. Er habe schon viele Interviews gegeben – an seiner Situation habe das nichts geändert. Wir erzählen von der Pushback Map und dass das natürlich nicht direkt etwas hilft, aber dass wir auch nicht mit der Situation einverstanden sind und die Berichte sammeln um zu protestieren. Das findet er gut. Seine Kleidung ist zerschlissen, er braucht Schuhe Größe 41. Ein anderer geht mit mir zum Auto. Wir können für alle gute Jacken weitergeben, aber Schuhe in Größe 41 – die hier am meisten gefragt sind – haben wir leider nicht. Später erfahren wir, dass er von „No Name Kitchen“ – einem weiteren transnationalen Kollektiv, das hier aktiv ist – passende Schuhe bekommen hat. Als sie sagen, sie wollen nicht das Camp-Essen weil sie sich gerne ihr pakistanisches Essen kochen, gibt Lenie ihnen etwas Geld zum einkaufen.
An der nächsten Station bietet sich ein ganz anderes Bild. Ein afghanischer Vater mit seinem Sohn räumen Müll um das unfertig aussehende Haus auf. Die achtköpfige Familie ist erst seit wenigen Tagen hier, und wird hoffentlich auch nicht lange bleiben. Dennoch werden sie den Ort besser verlassen als sie ihn vorgefunden haben. Die Familie ist erkennbar wohlhabend und gebildet. Der Vater ist Ingenieur und erzählt, dass er früher am Krankenhaus in Masar-Al-Sharif mitgebaut hat, finanziert von der KfW (Kreditanstalt für Wiederaufbau). Außerdem habe er mit einer lokalen afghanischen Initiative eine Schule für Jungen und eine Schule für Mädchen gebaut. Als klar war, dass die Taliban wieder an die Macht kommen, konnte er seine Familie in die Türkei bringen. Von dort aus sind sie bereits etwa 40 Tage unterwegs. Sie wollen in den kommenden Tagen wieder ins „Game“ gehen. Drei Mal hat es schon nicht geklappt. Ihr Ziel ist Norwegen, wo Angehörige von ihnen leben. Als wir fragen, ob sie etwas brauchen, verneinen sie.
Weiter geht es die Hügel auf und ab. In einem normalen Wohnhaus, das wie wir erfahren von einer bosnischen Familie zur Verfügung gestellt wird, ist zur Zeit eine kurdische Familie aus Nordirak. Die Mutter und Töchter unterhalten sich kurz mit uns und können auch Jacken brauchen. Leider haben wir für die Kleinste keine passende Größe, eine blöde Situation. Ich hole Kekse aus dem Auto, wenigstens etwas.. Ein Auto von IOM kommt vorbei, und der Fahrer fragt auch kurz, ob etwas gebraucht wird. Ist nicht der Fall. An der letzten Station sind die Türen abgeschlossen, keiner da. Die Leute, die letztes Mal noch hier waren, haben es wohl über die Grenze geschafft.
Auf der Rückfahrt holen wir gegen Abend Uschi von der kroatischen Grenze ab. Ein Stück vor dem Grenzübergang sehen wir People on the Move mit dicken Rucksäcken – offensichtlich auf dem Weg ins „Game“. Am Morgen haben wir in der Region des Lipa-Camps Männer zu Fuß ins Tal wandern sehen. Sind es vielleicht dieselben? Jetzt dämmert es, und die nächtliche Kälte bricht herein. Ich hoffe, sie schaffen es rüber und finden einen warmen Ort.