Julia, 7.3.:
Die Fahrt über Landstraße von Zagreb an die bosnische Grenze bei Bihac ist idyllisch. Hügel, malerische Tälchen, lose gewürfelte Dörfer, hier und da noch etwas Schnee oder am Südhang Krokusse. An einem See steigen weiße Reiher in die Luft.
Lenie und ich sprechen darüber, wie die Wahrnehmung einer Landschaft sich verändert, wenn man sie nicht aus touristischen Augen, nicht aus einer heilen Welt heraus anschaut. Wenn sie Schauplatz von Krieg oder Flucht ist. Die Kategorien ändern sich, ein freies Feld wird zur gefährlichen offenen Flanke, ein pittoresker Berg läßt geheime Pfade vermuten, ein Wald wird zum Versteck, die Nacht bietet gleichzeitig Schutz und Gefahr, eine Abkürzung könnte ein Minenfeld sein, ein Tal birgt das Risiko eines möglichen Hinterhalts.
Vor uns fährt ein Militärauto, an einer Straße steht ein Polizeiwagen und beobachtet die Gegend.
In einer weiten Ebene dann plötzlich eine LKW-Schlange, und schon fahren wir auf die bosnisch-herzegowinische Grenze zu. Wer hat nur diese Grenzen, die durch die Landschaft schneiden und Menschen trennen, erfunden? Und wer hat immer wieder an sie geglaubt? Der Begriff „Festungskapitalismus“ fällt mir ein, den ich neulich von Ulrich Brand in Bezug auf die EU gehört habe. Nach einer kleinen Diskussion mit dem Grenzbeamten angesichts unseres vollen Kofferraums winkt er uns etwas grummelig durch. Die ersten Eindrücke in Bosnien: Auf einem Hügel im Schnee ragen die Minarette einer weißen Moschee empor. Wie wohl die hier lebenden Muslime die oftmals muslimischen Flüchtenden Menschen wahrnehmen? Als Glaubensgeschwister oder als Störfaktor? Bihac scheint eine lebendige Stadt zu sein; von Flüchtenden sehen wir heute abend aber nichts. Wir fahren weiter in die Berge des Una-Nationalparks, in dem es Wölfe und Bären gibt, in unser freundliches Quartier. Dankbar für die warme Heizung und das Abendessen aus Suppe, lokalen „Krompiruša“ (Kartoffelstrudel) und Krautsalat, fragen wir uns, wie die fliehenden Menschen bei diesen Temparaturen campend und ohne finanzielle Unterstützung hier überhaupt überleben können? Wie funktioniert das Leben hier außerhalb unserer „Normalität“, wie diese Etappe der Flucht? Wie finden Menschen die Schlupflöcher im brutalen Grenzregime? Dieses Überlebenswissen findet sich nicht auf Wikipedia oder Google oder in der Tagesschau – es wird in Netzwerken weitergegeben die sich unterhalb des medial und für uns Sichtbaren spannen.
Lenie, 8.3.:
Flüchtlinge sind hier nicht wirklich sichtbar, aber sie sind definitiv da. Das Dorf in dem wir unterkommen hat Empathie für sie. Sie verstehen sie, sagen sie, aufgrund ihrer eigenen Kriegserfahrung. Wegen des Krieges in der Ukraine haben sie Angst, dass hier in Bosnien Kriegsideen aufflammen. Wir führen Gespräche mit Anwohnern. Mein erster Tag in Bosnien fühlt sich etwas komisch an. Gestern war die Hälfte der Fläche mit Schnee bedeckt. Der andere Teil liegt in der Sonne, ohne Schnee und wirkt freundlich. Ähnlich wie in Kroatien, überall kleine Weiler, einiger Häuser und Gehöfte. Überall eine schneidende Kälte. Auf dem Weg zu unserer Startadresse sind wir gestern durch die Stadt Bihac gefahren. Der erste Eindruck ist ein Straßenbild aus hässlichen Betonbauten und geraden Straßen. Überall laufen kleine Gruppen von Jugendlichen, es ist dann etwa 18 Uhr. Es ist Montag. Vielleicht sind es Kollegen, die von der Arbeit kommen? oder sind es die Einwanderer, die angeblich die Straßen bevölkern? Seltsam, sich das zu fragen. Flüchtlinge, die sich schon länger hier aufhalten, gehen nicht mit ihrem Gepäck zu Fuß. Sie sind daher nicht von der lokalen Bevölkerung zu unterscheiden, obwohl einige Gruppen eindeutig eine etwas dunklere Hautfarbe haben. Wohin gehen Sie? Wer sind sie? Wo schlafen sie? Werden wir in der Lage sein, mit ihnen zu sprechen und sie zu interviewen? Heute haben wir einige grundlegende Notwendigkeiten für diejenigen vorbereitet, die sie möglicherweise benötigen. Jeder Beutel enthält auch einen wichtigen Aufkleber in verschiedenen Sprachen. Darauf die Adresse der Push Back Map. Es ist so schön, Menschen etwas geben zu können, wo sie ihre Geschichte erzählen und ihre Beschwerde ausdrücken können. Ein kleiner Aufkleber, aber so wichtig, wenn man kaum jemanden kennt, an den man sich wenden kann.
Julia, 9.3.:
Die Begegnungen heute haben schon einige Antworten auf die Fragen der letzten Tage mit sich gebracht.
Eine lokale Aktivistin erzählt: Neben den von der Internationalen Organisation für Migration (IOM) betriebenen Lager weit weg in Sarajevo oder hier in Lipa bei Bihac gibt es zahlreiche inoffizielle Lager und besetzte Häuser oder Hausruinen, von denen aus immer wieder Menschen ins „Game“ gehen, einen neuen Versuch unternehmen über die streng bewachte und verteidigte kroatische Grenze in die EU zu gelangen. Das Lager in Lipa, einem Ort der nach dem Krieg in den 1990ern unbewohnt war, war für seine unhaltbaren Zustände berüchtigt und brannte im Winter 2020 ab. Jetzt ist es anscheinend wieder in Betrieb, wie auch ein weiteres Lager bei Bihac für Familien. Weiter nördlich und nahe der Grenze, um Velika Kladusa, gibt es nur inoffizielle provisorische Unterkünfte. In der Region gibt es mehrere lokale und internationale Initiativen, die Notfallunterstützung machen – ob Essensausgabe oder -verteilung, Organisation von Feuerholz, Isolierung von Fenstern, medizinische Versorgung, oder die Annahme, Lagerung, Sortierung und Verteilung von Kleidungsstücken. Manchmal sind für die Geflüchteten Unnütze Sachen dabei, wie Vorlegedeckchen, die dann an Bosnier*innen weitergegeben werden. Anderes ist in so schlechtem Zustand dass sie nicht wissen, was sie damit machen sollen. Diesen Winter waren weniger flüchtende Menschen da als im letzten – vielleicht sind mehr Leute auf der Route von Serbien nach Ungarn unterwegs. Aber jetzt wird es langsam Frühling und es werden wieder täglich mehr. Manche der „People on the Move“ sind seit 3 Jahren hier und haben es noch nicht über die Grenze geschafft – besonders für Familien ist das oft schwerer; andere bleiben nur ein paar Monate. Manche Routen sind für eine Zeit lang recht erfolgversprechend, dann sind es wieder andere. Manche machen Dutzende Versuche bis es klappt, es braucht Glück, aber irgendwann klappt es dann doch immer. Allerdings hinterläßt auch diese – hoffentlich letzte – Etappe der Flucht Wunden, umso öfter der vergebliche Versuch gemacht werden muss und brutale Pushbacks erlebt werden. Je mehr traumatische Erfahrungen, umso schwerer sind dann die Startbedingungen für einen Neuanfang am Ende der Flucht.
Während wir mit der Aktivistin sprechen, ruft jemand an, der heute Abend ins „Game“ gehen will, also einen Versuch machen über die Grenze nach Kroatien zu kommen. Er möchte etwas Konservennahrung mitnehmen, die schon auf dem Tisch bereit liegt, aber die Aktivistin ist zu weit weg um sie ihm rechtzeitig zu bringen. Er sagt er würde von Offiziellen im Lager abgehalten, seine Sachen mitzunehmen. Dann bricht der Kontakt ab und später erreicht sie ihn nicht mehr. Wenn das die nächsten Tage so bleibt, hat er es wahrscheinlich geschafft. Mit manchen hält sie noch Kontakt, die inzwischen in Italien oder Deutschland sind. Gern würde sie sie besuchen, aber auch für sie ist die EU (oder „Europa“, wie sie sagt) weit weg und schwer erreichbar.
Die Aktivistin erzählt, dass es um 2015 erstmal sehr viel Hilfsbereitschaft in der lokalen Bevölkerung gab, dann eine zeitlang, auch in Zusammenhang mit einigen Vorfällen eher negative Stimmung den fliehenden Menschen gegenüber, und jetzt hat es sich eingependelt und ist kaum noch Thema. Immer wieder kommen Freiwillige aus verschiedenen Ländern für einige Zeit, gerade ist noch wenig los aber zwei stehen wohl auf Abruf in den Startlöchern. Auch die Aktivistin vermutet, dass die Unterstützung hier mit dem Krieg in der Ukraine wahrscheinlich nachlassen wird. „Natürlich müssen die Menschen die aus der Ukraine fliehen auch versorgt werden“, sagt sie nur dazu. Sie ist da, und wird weitermachen.