Auf Grund der Polizeigewalt in Buzim lassen immer mehr Flüchtende diesen Ort rechts liegen und vermeiden die Nähe zu Buzim. Aus diesem Grund haben wir uns heute in die Region Sturlic aufgemacht. Es ist genau die westlichste Ecke des Kanton Una-Sana und dort gibt es sogar einen richtigen Grenzübergang.
Wir finden People on the Move in einem Haus hoch oben auf einem Hügel, mit Blick auf Kroatien. Das Haus besteht nur noch aus den Außenmauern, ein paar Innenmauern und dem Dach. Es gibt kein Wasser, keinen Ofen und natürlich keinen Strom. Ca. 80 Menschen leben hier vorübergehend, darunter ca. 40 Kinder, 30 Tage alt ist das Jüngste.
Eine Familie mit einem 10 Monate alten Baby lebt in einem kleinen 2 Personenzelt auf dem Vordach des Hauses ohne Absicherung zu den Seiten. Dort werde ich gebeten, mich um das kranke Kind zu kümmern. Es hat Husten, kann aber kräftig abhusten. Medizin wird von mir verlangt. Zum Glück frage ich nach Medizin, die vielleicht schon vorhanden ist. Ein Plastikgefäß kommt zum Vorschein mit Paracetamolsaft, Prospan-Hustensaft und einem antibiotischen Saft. Das Kind ist super gut versorgt- aber es würde nichts helfen, sagt die Mutter. Natürlich wirkt so ein Hustensaft nicht wie eine Paracetamoltablette. Es braucht seine Zeit. Ich erhöhe die Menge der Verordnung für den Hustensaft, ansonsten braucht das Kind nichts mehr – (als Ruhe, ein sicheres Zuhause, genug Flüssigkeit…) Die Mutter ist sauer, dass ich kein anderes Medikament verschreibe.
Oben im Haus, diesmal drinnen, „wohnt“ eine Frau, die heute vor einem Monat mit Kaiserschnitt ihr Baby im Krankenhaus von Bihac geboren hat. Seit der Entlassung hat keiner auf die Kaiserschittnaht geguckt. Das Pflaster von der Geburt klebt noch auf der Wunder. Ich entferne das Pflaster und die bisher nicht gut verheilte Naht kommt zum Vorschein. Nach Desinfektion spüle ich die Naht und klebe wieder ein großes steriles Pflaster drauf. Eigentlich wäre viel Luft gut, aber unter diesen hygienischen Bedingungen ist eine Abdeckung notwendig, sonst heilt sie noch schlechter. Morgen oder übermorgen geht es wieder „on the Game“- ein neuer Versuch in die EU zu kommen. Dem kleinen Baby geht es sehr gut. Es ist zu warm eingewickelt, hat geschwitzt, aber dass kenne ich schon von meiner Arbeit mit Geflüchteten im Wendland. Der Nabel ist zum Glück super gut verheilt, es hat einen Windelsoor, den ich behandele und hat seit der Geburt dank der Muttermilch schon 1 kg zugenommen. Es ist ein wunderbar kräftiges Mädchen, dass trotz des Weckens durch das Wiegen mit großen Augen zuhört, was ich alles erzähle. Sie wird ihren Weg gehen.
Kurz vorm Fahren kommt ein VW-Bus vom IOM (International Organization for Migration). Sie verteilen ein paar Plastiktüten mit Lebensmitteln, längst nicht ausreichend für alle. Auch Wasser haben sie nicht genug dabei. Sie kommen unregelmässig, die Menschen können sich nicht auf sich verlassen. Und vorallen Dingen tun sie nicht genug. Wie kann mensch als Teil des UN- Systems ein paar Tüten mit Essen verteilen, aber keine Intervention machen, dass hier Kinderschutz und Menschenrechte mit Füssen getreten werden. Ich würde gerne viel mehr verstehen über das System des Nichthinsehen wollens, der Untätigkeit von bosnischer Regierung, Europa, der Vereinten Nationen. Es ist 2021 und hier leben Menschen, wie vor 200 Jahren- am Rande der Festung Europa und wir lassen sie dort leben. Wir wissen Bescheid und wir tun nichts. Ja klar, wir sind jetzt mal 4 Wochen hier. Aber das reicht nicht. Das ist nichts. Wir müssen unsere menschenblockierenden Grenzen aufmachen, diesen Menschen ein Zuhause bieten. Ich fühle mich so hilflos. Wo wollen wir enden in 10 Jahren? Wird auch die Grenze zwischen Bosnien und Kroatien so ausgebaut, wie der Grenzzaun zwischen Serbien und Ungarn? Überall Berliner Mauern? Ja, das können wir. Ich werde zynisch. Sollten wir nicht noch mal wieder üben, Mauern einzureißen?
Die Rückfahrt verbringen wir in Gedanken an die Schulgruppe, bei der wir heute morgen wieder waren. Dort bereiteten wir Elektroyte nach WHO Rezept zu.
Die Familien klagten über ihre Lebenssituation, trotz Ofen, vielen Lebensmitteln, einem geschlossenen Dach über dem Kopf. Sie wissen nicht, wie priviligiert sie in diesem kleinen solidarischen Dorf mit ihrer Unterkunft sind. Und trotzdem leiden sie, nicht nur an den Umständen, auch an der eigenen Hilflosigkeit und dem Ausgeliefert sein. Heute waren alle sehr zurückgenommen, noch erschöpft vom PushBack. Ohne Hoffnung.
In ein paar Tagen fahren wir wieder hin. Sie brauchen Medikamente, neue Kleidung.