geschrieben von M. Müller:
Ich sitze in der Küche. Hier steht ein Holzofen. Es ist der einzige geheizte Raum im Haus. Es ist ein Kommen und Gehen. Seitdem ich gestern angekommen bin habe ich etwa 15 Menschen kennengelernt, die alle hier sind, weil sie das Schicksal der Menschen berührt, die aus unterschiedlichsten Gründen ihre Zuhause verlassen haben und sich nach Europa auf die Reise gemacht haben. Manche sind nur kurz hier, andere länger, einer schon zwei Jahre. Er wird nicht gehen bevor der letzte geflüchtete Mensch ein zuhause gefunden hat, sagt er.
Wir werden ganz herzlich aufgenommen. Nachts friert es. Tagsüber scheint die Sonne und dann ist es schön warm. Heute haben wir für alle hier im Haus draußen auf dem Campingkocher gekocht und in der Sonne gegessen. Eine Frau aus Kolumbien war begeistert, denn sie hätten noch nie draußen in der Sonne gegessen. Draußen ist es wärmer als drinnen. Aber nur in den Mittagsstunden . Die Kolumbianerin ist schon fast einen Monat hier. In der Küche sitzen sie – aus Frankreich, Slowenien, Bosnien, Italien, Spanien, Deutschland, USA … – still auf den zwei alten abgewetzten Sofas. Auf dem Couchtisch in der Mitte stehen alte Marmeladen Schraubgläser, die als Tee oder Kaffeetassen fungieren. Sie sitzen versunken mit ihren Smartphones und Laptops. Nein keine Spiele spielend … übers Smartphone erhalten sie die Bestellungen.
Geflüchtete Menschen können sie kontaktieren und mitteilen was sie benötigen. Wenn sie die Bestellungen erhalten haben gehen sie hoch ins Lager in denen all die gespendeten Sachen stehen. Sortiert: Decken, Schlafsäcke, Rucksäcke, dann Winterjacken, Regenkleidung, Schuhe säuberlich nach Größen, Hosen, Pullover, Unterwäsche, Socken, Mützen, Schals, Handschuhe etc. Sie stellen das Benötigte zusammen und fahren sie zu den vereinbarten Treffpunkten zur Übergabe.
Ich höre von Menschen, die – bei zur Zeit nachts Minus 7 Grad – in einem Holzschuppen wohnen. Drei Männer, denen ein Spanier und ein Deutscher eine frisch geladene Autobatterie bringen, damit sie ihre Smartphones laden können. Jetzt weiss ich warum heute stundenlang der Motor eines Autos im Stand lief – es wurde nicht nur eine Batterie geladen. Morgen fahren wir zu einer alten Fabrikhalle in der 90 Menschen Unterschlupf gefunden haben. Wir wurden gebeten dort eine Dusche zu installieren. Ja, die erste für 90 Menschen…
Es soll einige Kilometer von hier ein offizielles Lager für Geflüchtete geben. Es ist voll, heißt es. Als zwei unserer Gruppe zum Sägewerk außerhalb der Stadt fahren, um Holz für eine Treppe zu kaufen, die wir morgen bauen wollen, sehen sie auf der Landstraße viele Menschen, in kleineren Gruppen von bis zu 10 Personen laufen. Manche ohne Rucksack, ohne jegliches Gepäck. Ja ja, erklärt mir der Bosnier mit einem Marmeladenglas mit Tee in der Hand, „they are going on game“. Das heißt, die haben sich auf gemacht in einem ca. 12 Tage langen Fußmarsch zu versuchen, die grüne Grenze in die EU zu passieren – ohne von der kroatischen Grenzpolizei aufgegriffen zu werden. Denn diese wird sie zwingen, das Land wieder zu verlassen und sie durchaus auch gewaltsam wieder nach Bosnien raussetzen. Die Kolumbianerin fragt uns ob wir eine gute Salbe für Prellungen hätten. Und Desinfektionsmittel? Einem Mann wäre die Hand gebrochen und verwundet worden bei so einer Begegnung mit der Grenzpolizei. Viele haben es immer wieder probiert. Manche bis zu fünfzig Mal. Es ist „going on game“ – so nennen es die Migranten selbst, ein Spiel, man kann verlieren oder gewinnen – und natürlich hoffen sie, dass einmal sie gewinnen werden und es soweit in die EU hinein geschafft haben, dass sie nicht mehr einfach rausgeschmissen werden.
Wir sind sicher, dass die Geld- und Sachspenden, die uns deutsche Freund*innen anvertraut haben hier am richtigen Ort sind. Direktere Hilfe als hier von diesem bunten engagierten Team geht nicht. Heute morgen haben wir erst einmal die Hälfte davon ins Lagerhaus hoch getragen. In den oberen Stock gibt es keine Treppe sondern nur eine provisorische, halsbrecherische Rampe. Morgen werden wir hier eine Treppe bauen, damit die Helfer*innen sicher an die Hilfsgüter kommen können.
Für geflüchtete Frauen und Kinder gibt es Möglichkeiten der Versorgung in Camps. Ob zureichend entzieht sich meiner Sicht. Aber für die tausenden reisenden Männer gibt es nichts, denn die Camps für sie sind voll. Hier gibt es nur die Hilfe von Mensch zu Mensch. Und die Leute bei denen wir zu Gast sind machen das super engagiert und gut organisiert!
Erst in die Fabrikhalle fahren um zu schauen, ob es möglich ist eine Dusche zu installieren. Dann geht es zu einem anderen Lagerhaus um zu sehen was dort gebraucht wird und ob wir mit unseren Spenden dort helfen können. Dann werden wir eine Solaranlage installieren auf einer Baracke, in der geflüchtete Obdach für ein oder zwei Nächte finden können. Dort gibt es keinen Strom. Wenn sie dort selbst wieder etwas aufgetankt haben und ihre Smartphones dann auch mit Solarstrom wieder geladen haben kann die Reise weiter gehen, zu Fuß, und nachts ist es -7 °C. Heute gehe ich im Supermarkt einkaufen. Vor mir in der Warteschlange an der Kasse ein älterer bosnischer Mann, davor ein junger Mann aus Nordafrika, der gerade bezahlt. Ich frage mich, wie alt dieser Mensch sein mag, vielleicht 15 Jahre, oder 16? Ich weiß es nicht. Ich verstehe kein bosnisch aber beobachte, wie der ältere bosnische Mann vor mir, der Verkäuferin sagt, dass diese zwei Pakete Linsen auf seine Rechnung gehen und er steckt sie dem Jugendlichen in die Einkaufstüte. Scheu, ohne aufzuschauen geht der Junge langsam aus dem Laden. Später fahren wir zur alten Fabrikhalle. Der Geruch von verbrennendem Plastik kommt uns entgegen. Die etwa 1,5 Meter hohe Betonsockelwand trägt nur noch die bloßen Stahlstützen, die in die Höhe ragen und das an vielen Stellen durchlöcherte Wellblechdach tragen. Die Außenverkleidung der Halle hängt nur noch punktuell in Fetzen an den Trägern. Die Halle ist riesig groß. Es liegen große Erdhaufen darin, teilweise ist sie betoniert. Hunderte von Autoreifen, die Menschen sich zu kleinen Hütten zusammengelegt haben. Manche leben auch in Zelten, die sie in der Halle aufgestellt haben. Immerhin gibt sie mehr Schutz als der freie Himmel. Da brennt ein Feuer und drum herum stehen alte Sofas, auf denen Menschen schlafen. Wild lebende Hunde, auch eine Hündin mit Welpen mischen sich durch die Menschen. Hinten in der Halle brennt ein Feuer um das sich Menschen ihre Lager auf dem blanken Boden gemacht haben. Hier steigen schwarze Rauchwolken auf, denn auch Plastik und Gummi brennt und macht warm.
Als wir auf den großen Parkplatz vor der Halle angefahren kommen stehen viele Männer in einem Pulk draußen. Unsere Begleiter werden herzlich begrüßt, wie alte Freunde. Eine Lehrerin und ein Lehrer haben zwei große Töpfe Eintopf mit gutem Fleisch gekocht und verteilen gerade das Essen. Kochen sie jeden Tag für die Menschen hier? Nein, dazu reiche das Geld nicht, aber hin und wieder. Die Lehrerin freut sich mit mir Deutsch zu sprechen – sie war im Jugoslawien-Krieg selbst Geflüchtete – in Deutschland.
Wir werden mit einem jungen Mann mit leuchtenden Augen und hellem Blick bekannt gemacht. Er war es, der uns angefragt hatte wegen der Dusche. Er zeigt uns die Dusche, die die Männer sich selbst gebaut haben: ein wackeliges Holzgestänge mit Plastikfetzen dran gehangen und drinnen: ein großer alter Alutopf. Wo ist das Wasser?, frage ich. Dort draußen fließe ein Fluss, dort hole man auch das Trinkwasser. Ich bin nicht mehr dazu gekommen, zum Fluss, der auch nicht in Sichtweite war hinunter zu gehen, auch habe ich nicht gefragt, wo hier die Toilette sei… Aber wir werden eine kleine Duschkabine aus Dachlatten bauen und mit Gartenschlauch und Brause eine Warmwasserdusche installieren, mit Abfluss, damit nicht eine große Schlammlache entsteht. Heute haben wir schon einen guten Baumarkt und Holzhändler gefunden.
Der junge Mann mit den leuchtenden Augen erzählt uns, dass er glücklich ist, wenn die Menschen um ihn herum glücklich sind. Dass er mit allen Organisationen vor Ort, die für Geflüchtete arbeiten in gutem Kontakt steht, mit allen Ethnien der Migranten die in der Region leben und auch mit den Behörden und der Polizei. „Es ist nicht wichtig, ob man Papiere hat, nur die Person ist wichtig. Und wenn die Person kraftvoll ist, dann kann sie alles machen, auch ohne Papiere. Sie braucht aber Energie und etwas Köpfchen!“ So wie dieser junge Mann vor mir steht nehme ich ihm voll ab was er sagt. Ja er hat Energie und eine klare Vision. „Schade, dass sie vergessen haben, den Fußball mitzubringen. Die Leute, die hier in dieser Halle leben sollten Fußball spielen, denn sonst grübeln sie nur, werden angespannt und gereizt. Dann gibt es Konflikte. Wenn sie miteinander spielen würden, würde es sie verbinden und entspannen.“Später frage ich unsere Begleiter, wer dieser Mann ist. Er sei selbst geflüchtet aus Afghanistan und seit zwei Jahren hier, habe auch keine Papiere. Wow, he is walking his talk! Welch ein starker Mensch, der wahrlich seine eigenen Probleme hat und sich so für seine Schicksalsgenossen einsetzt, die oft selbst nicht solche menschliche Stärke haben. Denn – wie kann es auch anders sein – sind viele psychisch in einem sehr angegriffenen Zustand.
Als wir uns verabschieden fragt er, ob wir ihn im Auto mit in die Stadt nehmen können. Unsere Fahrerinnen sagen dass das leider nicht geht, denn nach bosnischen Gesetz darf niemand Migranten im Auto mitnehmen. Es ist sichtlich ein schmerzhaftes Thema – für beide Seiten. Beide arbeiten an der gleichen Sache – den Menschen zu helfen und sind gute Freunde. Und in seiner inneren Stärke – ich glaube mit Tränen in den Augen und schmerzendem Herzen – macht er sich zu Fuß auf den Weg. Als wir an ihm vorbei fahren, begleiten ihn zumindest einige der wilden Hunde die verspielt um seine Beine streichen.
Später frage ich einen Bosnier, ob in Bosnien das Trampen verboten sei. Nein, ich könne hier per Anhalter fahren. Ich frage was der Unterschied ist ob ich trampe, oder ob ein Migrant mitgenommen wird? Ich sei beim Trampen noch nie nach meinen Papieren gefragt worden. Der Unterschied ist die Hautfarbe bekomme ich als Antwort.
Heute haben wir um halb zehn abends die Treppe in Obergeschoss des Lagers fertigstellt und stoßen auf der obersten Stufe auf den Geburtstag von einem in unserem Team an. Es ist auch noch ein runder. Es sei das beste Geburtstagsgeschenk hier zu sein, sagt er. Nicht nur in seiner eigenen Glocke leben, sich mit deutschen Luxusproblemen beschäftigen, sondern erfahren wie es auch ist. Was die Kehrseite unseres Wohlstandes ist. Und was zu tun. Z.B. diese Treppe zu bauen, das sei sein Geburtstagsgeschenk! Auch ein besonderes Geburtstagsgeschenk von seiner Frau die über zwei Wochen alleine mit dem gemeinsamen 2-jährigen Kind zu Hause geblieben ist.
Gestern kommt ein Mann, der vor zwei Jahren schon mal längere Zeit hier geholfen hatte. Er sagt, das es ihn schockiert so viele alte bekannte Migranten wieder zu treffen. Ich höre, dass viele schon zwei Jahre und länger hier sind und teilweise schon 50 Mal „on game“ waren. Eine Frau sammelt Berichte über die Begegnungen mit der kroatischen Polizei. Sie erzählt, dass gerade im letzten Jahr soviel mehr von gewaltsamem Umgang mit den aufgegriffenen Migranten berichtet wird. Dass Migranten selbst schon weit im Lande von Kroatien noch von der Polizei aufgegriffen werden und zurück an die Grenze nach Bosnien gefahren werden und dort oft geschlagen wird, alles Hab und Gut genommen wird, die Smartphones zerschlagen werden und sie ohne Schuhe in den Wald nach Bosnien zurück geschickt werden. Dann laufen sie so über Stunden oder Tage lang – nachts ist es minus 7 Grad – ohne alles im T-shirt und barfuss und verletzt bis sie jemanden finden über dessen Smartphone sie sich bei den Helfern, bei denen wir zu Gast sind, melden können, um Hilfe zu bekommen.
„Hallo Freund, wie können wir dir helfen? Wir können dir Essen, Kleidung, Schuhe, Schlafsack geben. Was brauchst du?“ ist die Antwort der Freiwilligen aus aller Welt, die hier am Couchtisch mit ihren Handys sitzen und aus Marmeladengläsern Tee trinken. Nachts schlafen sie im liebevoll genannten Refrigerator, dem Schlafraum mit Matratzen auf Paletten, eng an eng. Tagsüber gehen sie zu den Unterschlupfen die sich die Migranten geschaffen haben, in leeren Häusern, Schuppen, Garagen, der alten Fabrikhalle und schauen was gebraucht wird… und fahren die Bestellungen aus. Kraftvolle Menschen, die wie der junge Mann mit den leuchtenden Augen aus Afghanistan für eine Welt ohne Grenzen und ohne Ausgrenzung sich unermüdlich einsetzen. Menschen, die noch daran glauben, dass ein Mensch auch ohne Papiere ein Mensch in Würde ist. Und dann denke ich an Gandhis Aussage: (sinngemäß) Und in einer ungerechten Welt ist das Gefängnis der würdige Platz für einen gerechten Menschen.
In der Post begegne ich einem Mann mit Wunden im Gesicht und geschwollenem Auge. In einem Telefonladen kommt eine ganze Gruppe nicht-weißer Männer. Ein Mann erzählt er sei Berber. Sie beratschlagen, welches Smartphone sie kaufen sollen und welche Powerbank. Mittlerweile weiß ich, wie lebenswichtig diese elektronischen Geräte für sie sind. Mir fällt auf, dass einer einen in Lappen verbundenen Unterarm und Hand hat. Als ich nachmittags durch den Ort gehe, sehe ich einen Mann auf der Straße laufen – offensichtlich aus Nordafrika – ein Bein nachziehen. Es sticht mir ins Herz und ich muss mir Mühe geben meinen Aufschrei zu unterdrücken und in Tränen auszubrechen. Haben auch diese Männer versucht ihrem Traum vom besseren Leben zu folgen und in die EU zu kommen und sind dann wieder hier in Bosnien gelandet als Verletzte und gekennzeichnet durch körperlich erfahrene Gewalt?
Morgen müssen wir zur Polizei. Denn auch wir sind Ausländer und müssen uns Papiere besorgen, damit wir im Land bleiben können. Auch wir sind Migranten, Reisende – sind wir das nicht eigentlich alle? Doch es gibt einen Unterschied: wir werden morgen unsere Papiere bekommen und sind dann legal.