Mittwoch, 20.4.2016, 23 Uhr
Idomeni im Sturm bei Orkanböen
Ein kalter, heftiger Sturm weht seit heute Nacht durch die Region. Die ganze Nacht wankt der Wohnwagen und wir wissen, dass heute Nacht wieder viele Menschen ihr Obdach verlieren.
Um 10 Uhr fahre ich, Katja, mit einer jungen Freiwilligen nach Idomeni ins Hauptcamp um eine besorgte Schwangere aufzusuchen. Die Luft ist voll mit Staub und Sand. Die Augen brennen, der Wind peitscht uns um die Ohren. Viele Zelten und kleinere Bauten stehen nicht mehr. Es liegt eine eigenartige Ruhe über dem immer leerer werdenden Lager.
Eine Einheit von griechischen Polizisten marschiert in diesem Orkan mit Helmen, voller Kampfmontur und Schutzschilden durchs Camp. Sie verursachen Angst und Lähmung. Keine Kinderstimmen sind mehr zu hören. Alle halten den Atem an. (Später stellt sich heraus, das die Regierung das Lagerareal zur militärischen Zone erklärt hat und dort mitten zwischen den Flüchtlingen auch Übungen stattfinden können.)
Nach ein wenig Suchen finden wir das richtige Zelt. Die junge Frau macht sich Sorgen um ihr Kind, weil es sich viel bewegt. Sie hat eine kräftige Bronchitis, zur Heilung ein Antibiotikum bekommen (dass sich zum Glück mit ihrer Schwangerschaft verträgt) aber auch mal wieder Paracetamol. Diesmal 1000mg gegen den Husten. Wir setzen das PCM sofort ab, weil sie selbst erkennt, das ein Schmerzmittel nicht den Husten lindert. Und schon gar nicht in dieser hohen Dosierung.
Ihrem Kind scheint es gut zu gehen. Ich ertaste die Lage, höre gemeinsam mit der Familie die Herztöne. Alle sind begeistert. Währenddessen peitscht der Wind immer wieder das kleine Zelt auf unsere Köpfe. Verständigung ist nur mit Brüllen möglich. Auch die Herztöne können wie nur schwer hören – so laut sind die Windgeräusche. Blutdruckmessung geht auch nicht mehr übers Hören im Stethoskop, sondern nur übers Wahrnehmen der Nadel auf dem Druckmessgerät.
Mitten in der Vorsorge und dem Hinspüren zum Baby holt der Vater des Ungeborenen sein Handy raus und zeigt in die warme Freude über die Herztöne des Babys einen kleinen Film über die Zerstörungen von letzter Nacht in Syrien. Die Schießereien auf dem Handy sind diesmal laut zu hören, direkt vor dem Bauch der Schwangeren.
Ein paar Minuten halte ich es aus, diesem Film zusehen, weil ich weiß, dies ist die Realität: Krieg, Zerstörung und Flucht, Elend und ein Funken Freude finden alle nebeneinander statt. Aber es nimmt immer mehr Raum ein und ich bin doch gerufen worden, um der werdenden Mutter Hoffnung und Zuversicht zu geben. Ich traue mich, den Vater zu bitten, das Handy jetzt in dieser Situation erstmal auszumachen. Aber die Realität hat uns alle in dem kleinen Zelt wieder eingeholt. Das Baby ist wieder unwichtig geworden.
Eine andere Familie vor ein paar Tagen: Gleich zu Anfang meiner Zeit hier hatte ich Kontakt zu einer Schwangeren. Bei einer Vorsorge erzählte die Frau, sie könne ihr Baby nicht spüren, es würde sich nicht bewegen. Ich konnte keine Herztöne finden.
Damals hatte ich die Hoffnung, dass die Schwangerschaft vielleicht doch jünger sei, als ich annahm und machte für eine Woche später einen neuen Termin aus. Als ich jetzt kam, sagte die junge Frau, dass sie vielleicht ein ganz wenig ihr Kind spüren würde. Diesmal hörten wir die Herztöne und auch das sich bewegende Kind. Allerdings spürte sie selber noch nichts. Meine Hände blieben auf ihrem Bauch liegen und ich erklärte, dass ich jetzt mit dem Baby reden würde. Ich spürte hin zu ihrem Baby, redete dabei auf deutsch mit dem Baby in sanften, lockenden Worten und plötzlich reagierte das Baby mit ganz zaghaften Bewegungen. Ein Lächeln huschte endlich über das Gesicht der Mutter. Ich redete weiter ermutigend mit dem Baby. Die Bewegungen wurden immer kräftiger. Alle Freundinnen im Zelt nahmen die Bewegungen unter der Bauchdecke wahr und murmelten sich zu, dass durch das Sprechen mit dem Kind das Baby reagiert hätte. Endlich konnte sich das Ungeborene den Raum nehmen, den es brauchte.
Wir verabredeten, dass sich die Mutter jeden Tag 10 Minuten Zeit mit ihrem Baby im Bauch nehmen solle, damit das Baby spürt, dass es erwünscht und geliebt sei. Endlich war die junge Frau auch wirklich Mutter eines ungeborenen Babys geworden.
Die Menschen verlassen die Camps. An der EKO-Tankstelle verrät die Natur das Verlassen. Deutlich ist auf dem Rasen zu erkennen, dass hier wochenlang Zelte gestanden haben müssen. An der BP-Tankstelle ist ein ganzes „Zeltdorf“ verschwunden. Vorgestern haben wir dort noch einen angebotenen Kaffee getrunken, gestern wurden wir von dort gegrüßt, heute ist dort nur noch staubige Leere. Das Camp an der kleinen Tankstelle, die wir die letzten Tage in unserem besonderen Fokus hatten, kann man eigentlich gar nicht mehr als Camp bezeichnen. Dass das große Camp in Idomeni schrumpft, ist oben schon beschrieben.
Viele Menschen lassen sich in die Militärcamps verlegen (wenn wir es richtig wahrnehmen, gibt es als staatliche Camps nur Militärcamps). Aus Idomeni wird berichtet, dass dort immer ein Bus bereitsteht. Ist er voll, fährt er ab Richtung Militärcamp und ein neuer Bus wartet. Haben die Menschen resigniert oder versuchen sie sich in Vertrauen in den Staat und entscheiden sich positiv bewusst?
Andere erhalten sich ihre Selbstbestimmung im Beschluss, in Kleingruppen über die Grenze(n) zu kommen. In kleinen Gruppen von 15-30 Personen sammeln sie sich und machen an einer uns bekannten Stelle Rast. Gestern sind wir bewusst auf sie zugegangen. Die Wasserflaschen, die wir verteilten, waren sofort weg. Obwohl die Menschen in meiner Vorstellung bestimmt auf das Gewicht ihres Gepäck achten, werden auch unsere Decken angenommen. Leider haben wir nur ein paar Schuhe dabei. Und selbst eine unserer beiden Hosen, die wir zufällig dabei haben wird erfragt. Wir gehen von Gruppe zu Gruppe. Wir erleben Gemeinschaft. Babytragen werden angepasst. Für die Gemeinschaft werden pflanzliche Mittel ausgegeben gegen Husten, Sonnenbrand, Schmerzen.
Heute haben wir uns vorgenommen, besser vorbereitet zu sein. Wir packen Tüten für je 10 Personen. Etwas gegen Schmerzen, Zahnschmerzen, Durchfall, sowie Verbandmaterial, Feuchttücher, Schokolade, …; Extratüten für Babys. Wir haben ausreichend Wasser dabei, Decken.
Doch heute begegnen wir keinen Gruppen …
Den im Blog erwähnten Patienten mit der Querschnittslähmung haben wir immer noch im Blick. Ihm und seiner Familie geht es den Umständen entsprechend gut. Es gibt Bewegung für seine Zukunft. Aber es ist noch nicht die Zeit, darüber zu berichten. Spekulationen und Mutmaßungen schaden mehr, als dass sie helfen. Aber es ist etwas im Fluss.